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Ein Friedhof ohne Kreuze

„Hier ist doch Heideland düsterer und härter als in Afrika oder Indien!“ wetterte der Pfarrer Hermann Priebe 1929 und meinte damit den Friedhof der Freireligiösen Gemeinde an der Pappelallee im heutigen Helmholzkiez: „Er gehört den proletarischen Freidenkern, die dem krassen Atheismus huldigen und geschworene Feinde jeden Glaubens sind …“
‚Die Welt regiert sich selbst nach ewigen Gesetzen‘ war tatsächlich als Leitsatz groß in der Feierhalle zu lesen und beschreibt die geistige Grundausrichtung, die in der Abkehr von kirchlichen Überzeugungen und nicht zuletzt der Institution Kirche selbst bestand. Der 1845 gegründeten Gemeinschaft der „Freireligiösen“ traten neben exkommunizierten oder ausgetretenen Katholiken, reformwillige Protestanten und säkularisierte Juden bei. Später zählten Sozialdemokraten wie der Stenograf Heinrich Roller zu ihren Mitgliedern. Roller erfand 1875 ein eigenes Stenografiesystem, das er selbst Weltkurzschrift nannte. Sein Signet, eine geflügelte Schreibfeder, schmückt das auffällige Grab, flankiert von einer weiblichen, einen Stift haltenden Skulptur.
Mitte der 1800 Jahre war die Stenografie die modernste und schnellste Methode der Mitschrift. Da die als suspekt erachtete Freireligiöse Gemeinde polizeilich observiert wurde, hatte die Erfindung Rollers eine besondere Bedeutung. Um sich gegen falsche Berichterstattung zu schützen, engagierte die Gemeinde einen Stenografen, der Mitschriften für alle Veranstaltungen anfertigte.

 

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… wo er nach Feierabend gräbt und seine Urlaubszeit verlebt … (Erich Weinert)

Als sich die Kleingartensparte an der Bornholmer Strasse gegründet hatte, war es der Hunger, der die Einwohner Berlins zur Eigenversorgung trieb. Ohne große Absprachen nahmen sie 1896 das Gebiet über einer Mülldeponie in Besitz und errichteten hier ihre ersten Gärtchen für Kartoffeln, Gemüse und Hühner. Mit dem Bau der Paul-Gerhardt-Kirche 1908 gelangte der Aushub der Erde hierher und wurde ungleichmäßig auf die Gartenanlage verteilt. Bis heute sind die Höhenunterschiede von fast einem Meter deutlich zu spüren.
Als „Hungrigen Wolf“ ließ sich die Kolonie schließlich 1919 beim Amtsgericht registrieren, ein Gartenlokal komplettierte ab den Goldenen Zwanzigern das Vereinsleben.
Durch Weltkriegsbomben zerstört versorgte der Brunnen der Anlage nach Kriegsende den ausgebombten Kiez mit Trinkwasser. Mit dem Bau der Mauer rutschten die Gärten vollkommen ins Abseits. Dass Leitern im Grenzgebiet wegen Fluchtgefahrt ab sofort verboten waren, dürfte gerade für die Obsternte Einfallsreichtum erfordert haben.
Zum Glück ist das Geschichte. Heute blühen im Frühjahr nicht nur in „Bornholm“ die Kirschen sondern auch auf der Kirschbaumallee. Aus Freude über den Mauerfall und die Wiedervereinigung spendeten Bürger Japans in einer großzügig angelegten Spendenaktion japanische Zierkirschen entlang des Mauerweges.

 

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Es klappert die Mühle …

Hinter dem Prenzlauer Tor ging es auf einer Landstraße bergan Richtung Prenzlau. Diese natürliche Anhöhe gab dem 1920 gegründeten Bezirk seinen Namen – Prenzlauer Berg. An die insgesamt 30 Mühlen, die es auf seinem Gebiet nachweislich gegeben hat, erinnert sein Wappen. Es zeigt vier schwarze Windmühlenflügel auf gelbem Schild.
In der damals noch ländlichen Umgebung drehten sich auf königliche Weisung seit 1748 die ersten Windmühlen. Der Müllermeister Christoph Müncheberg hatte sie auf dem Gebiet der Metzer Straße aufgestellt, sein Müllerhaus existiert bis heute. Bald standen auf der eiszeitlichen Erhöhung an der Straßburger/ Saarbrücker Straße acht Mühlen eng nebeneinander. Kein Wunder, dass sich die vielen Flügel auf dem nun entstandenen Windmühlenberg gegenseitig den Wind wegnahmen.
Doch die Stadt Berlin wuchs weiter in Richtung Norden und mit ihrer Ausdehnung die Bebauung. Kriegsschäden und Brände, die aufkommende Dampfkraft und Elekrifizierung machte den Müllern mit ihren vom Wind angegetriebenen Mühlen zu schaffen und das Müllergeschäft rentierte sich irgendwann nicht mehr. Im Jahre 1900 stellte die letzte Windmühle in Prenzlauer Berg ihre Arbeit entgültig ein.

 

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Von der Eckkneipe ins Café Achteck

Café Achteck nannten die Berliner die kleinen grünen Toilettenhäuschen. 30 von ehemals 142 Exemplaren stehen heute noch in der Stadt verstreut – ein rekonstruiertes findet man am Senefeldeplatz.
Bis ins 19. Jahrhundert gab es nahezu keine öffentlichen Toiletten. Bis dahin pinkelte man von den Brücken, obwohl das strafbar war, oder um 1734 in eine Urintonne, die an einem Portal des Stadtschlosses aufgestellt wurde und sich mit einem Ablauf direkt in die Spree entleerte. Kein Wunder, dass das Problem der Notdurft irgendwann auf dem Tisch des Stadtrates landete. Um es zu lösen, veranlaßte der Polizeipräsident Madai Anfang der 1870er Jahre das Aufstellen von Urinieranstalten. Die Berliner dankten es mit einem Spitznamen – Madai-Tempel nannten sie die Pissoirs, in denen zwei Männer Platz zum Pinkeln hatten. Die Häuschen reichten jedoch bald nicht mehr aus und der Stadtbaurat Rospatt erarbeitete 1878 einen neuen, rationellen Typ mit acht Ecken, in dem sich sieben Personen gleichzeitg erleichtern konnten. Die stilvoll mit floralen Mustern dekorierten Wände aus Gusseisen waren zudem in der Herstellung ganz modern. Man nutzte die Vorteile der in Berlin immer leistungsfähigeren Eisengießertechnik.
Natürlich war das ungerecht, denn nur Männer durften pinkeln. 1874 entstand zwar im Roten Rathaus die erste öffentliche Anlage für Frauen, doch erst 25 Jahre später Damen-WCs auf den Plätzen der Stadt.

 

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Schalom

Am 29. Juli 1945 wurde in der Synagoge in der Rykestraße das erste jüdische Brautpaar in Berlin getraut. Es war ein Zeichen des Neuanfangs und der Hoffnung.
Im Bezirk Prenzlauer Berg lebte um 1910 mit 19000 registrierten Einwohnern die drittgrößte jüdische Bevölkerung Berlins. Damit entstand eine vielfältige jüdische Infrastruktur mit Synagogen, Wohlfahrtseinrichtungen, Kinderheimen, Schulen, Vereinen und Geschäften.
Zwei Davidssterne am schmiedeeisernen Gitter schmücken die doppelte Tordurchfahrt zur größten, 1904 eingeweihten Synagoge Deutschlands. Die Gestaltung der im Stil der Neoromanik gebauten dreischiffigen Basilika, lehnt sich an märkische Backsteinkirchen an. Neben einem orthodoxen Geistlichen amtierten hier auch liberale Rabbiner. 1930 wurde erstmals eine Frau in den Gemeindevorstand gewählt – 1935, mit Regine Jonas, sogar die weltweit erste Rabbinerin ordiniert.
Im Vorderhaus befanden sich die III. Volksschule des »Jüdischen Schulvereins e.V.« und die VI. Religionsschule der Jüdischen Gemeinde mit etwa 500 Schülern. Nach 1933 verfolgte der »Jüdische Schulverein« das Ziel, Schüler auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Lilli Henoch, die in der nähe von Riga ermordet wurde, seinerzeit berühmte Leichtathletin und Weltrekordhalterin, war bis zu deren Auflösung Sportlehrerin dieser Schule.

 

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Käthe

In sich ruhend sitzt die bronzene Käthe mitten auf dem Kollwitzplatz, der zu ihrem Geburtstag am 8. Juli 1946 ihren Namen erhielt. Ihre Nase ist vom vielen Anfassen ganz blank poliert, denn von Beginn an kletterten die Kinder auf der Skulptur herum. Die meisten Anwohner stört das nicht, sie finden diesen Umgang wunderbar. Der Bildhauer hatte genau das beabsichtigt und den Sockel extra breit und niedrig gehalten. Auch der porträtierten Künstlerin hätte es bestimmt gefallen.
1956 beauftragte der Berliner Magistrat den Bildhauer Gustav Seitz. Dieser schuf allerdings nicht die Skulptur, die der sozialistische Auftraggeber erwartet hatte. Statt kämpferischer Pose zeigt Seitz die Künstlerin im höheren Lebensalter und greift dabei auf eines ihrer letzten Selbstportäts zurück. Gustav Seitz hatte Käthe Kollwitz noch selbst erlebt. Obwohl er 1958 nach Hamburg wechselte, wurde die Skulptur in Abwesenheit des Künstlers gegossen und 1961 feierlich eingeweiht.
Käthe Kollwitz zählt zu den bekanntesten deutschen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit ihrem Mann, dem Armenarzt Karl Kollwitz, wohnte sie in der Weißenburger Straße 25, der heutigen Kollwitzstraße. Zeitlebens thematisierte sie in ihren realistisch expressiven Zeichnungen, Grafiken und Skulpturen soziales Elend und eigene leidhafte Erfahrungen.

 

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Klassenkampf im Führerhäuschen

Als die Westberliner BVG 1984 von der DDR endlich das gesamte Schienennetz auf der westlichen Seite übernahm, gab die Deutsche Reichsbahn natürlich nur die ältesten ihrer rot-gelben S-Bahn-Wagen her. Das war der letzte einer Reihe von Kinnhaken, die die Verantwortlichen für Bus und Bahn in die jeweils andere Richtung austeilten. Eine kuriose Attacke ritt die DDR mithilfe der Modernen Frau.
Was im Westen in den 50iger Jahren undenkbar war, wurde im Osten bereits ab 1950 gängige Praxis – Frauen als Straßenbahnführerinnen. Und so setzte man die Ostfrauen gern in jene Straßenbahnen, die die Sektorengrenze überquerten, zwi­schen Mit­te und Tier­gar­ten, Trep­tow und Neu­kölln, Prenz­lau­er Berg und Wed­ding. Da beide Seiten zugesagt hatten, die verschiedenen Regularien gegenseitig anzuerkennen, empfand man das im Westen als Provokation und arrangierte sich auf eigene Art. Die Kolleginnen aus Ostberlin mussten das Führerhaus verlassen und wurden zurückgeschickt, worauf die DDR kurzerhand die Übergangsstellen durch die Deutsche Volkspolizei gleich ganz sperrte. Für die Passagiere eine Zumutung, denn sie hatten nun den Weg von der letzten Haltestelle im Ostteil zur ersten im Westen und umgekehrt zu Fuß zu bewältigen. Der Mauerbau brachte 1961 dann das entgültige Aus für die zonenübergreifende Straßenbahn.

 

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Im rechten Winkel nach Norden

Dort wo sich heute Kollwitz- oder Helmholtzplatz befinden, breitete sich vor knapp 200 Jahren noch eine idyllische Landschaft aus – Felder, kleine Weinberge, sich drehende Windmühlen und vereinzelte Ausflugslokale. Das Prenzlauer und Schönhauser Tor markierten die nördliche Grenze der Stadt. Diese allerdings platzte im Zuge der Industrialisierung bereits aus allen Nähten, war dreckig, eng und ungesund. Man entschloß sich, ihre Grenzen weiträumig nach außen zu verschieben.
So entwickelte im Auftrag der Stadt der Stadtbaurat James Hobrecht seinen Bebauungsplan von 1862. Über die existierenden Ausfallstraßen zum Schloß Schönhausen, nach Prenzlau und Greifswald legte er ein rechtwinkliges Raster, das noch heute aus der Luft erkennbar ist. Die mit Ziffern und Buchstaben gekennzeichneten geplanten Straßen und Plätze erhielten erst mit ihrer Errichtung ihre meist bis heute gültigen Namen.
Nach Ende des deutsch-französischen Krieges entstand das Französische Viertel mit Wörther, Colmarer, Metzer Strasse. Nördlich der heutigen Danziger Straße entschied man sich für Persönlichkeiten wie den Archäologen Heinrich Schliemann, den Physiologen Hermann von Helmholtz, den Bürgermeister Hermann Duncker. Später folgten das Nordische Viertel um die Bornholmer Strasse und das Ostpreußische Viertel.
Eine Strasse in Kreuzberg erinnert an Hobrecht – den Mann, der das Gesicht des heutigen Berlin maßgeblich prägte. Die spätere Bebauung mit eng gedrängten Mietskasernen war allerdings nicht seine Schuld, sondern die der Spekulanten, die sich damals wie heute um Grund und Boden zankten.