24-heute

24

Das paulinische Wunder

Das Bild der heiligen Familie in der Christnacht ist eins von acht Szenen aus dem Leben Marias und ihres Sohnes, das um das Jahr 1490 herum geschnitzt und zum bedeutendsten mittelalterlichen Altar der Messestadt geworden ist. Heute steht er wieder prominent im Paulinum in der Leipziger Stadtmitte, aber abzusehen gewesen war das lange Zeit nicht. Walter Ulbricht, bekannt für seine rigorose Vernichtung von Kirchenbauten, löste nicht nur in Leipzig die Zerstörung eines geschichtsträchtigen Bauwerks aus, aber hier hatte die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli einen besonderen Riss durch die Gesellschaft gezogen, der nicht verheilen wollte.

Die ursprüngliche Kirche gehörte zu einem Dominikanerkloster und war mit der hiesigen Universität schon seit deren Gründung im Jahr 1409 eng verknüpft. Viele Professoren ließen sich hier bestatten und künstlerisch oft sehr wertvolle Gedächtnistafeln und ließen ihre Namen in der Erinnerung der Stadt bleiben. Mit der Reformation wurde das Kloster säkularisiert. Kurfürst Moritz, der auch die Fürstenschulen in Schulpforta, Grimma und Meißen schuf, übereignete den Kirchenbau der Universität, Martin Luther persönlich weihte die Kirche ein. Wie andernorts wurden Altäre und anderer Kirchenschmuck entfernt, aber der schöne Schnitzaltar blieb erhalten.

Über die Jahrhunderte hatte auch diese Kirche viel durchzustehen, aber nichts war dem Tag im Mai 1968 vergleichbar, in dem die im Krieg unzerstört gebliebene Kirche den Sprengkommandos überantwortet wurde. Kurz zuvor war es noch gelungen, wichtige Kunstwerke zu retten und unmittelbar vor der Sprengung spielte der Kantor auf der historischen Orgel, an der schon Bach gesessen hatte, eine seiner Toccaten, mitten hinein in den Lärm der Bohrer. Bevor man ihn hinauswarf, zeichnete er über den letzten Ton, den er spielen konnte, ein Kreuz. Mit dem Bau des Paulinums fanden 50 Jahre später auch die geretteten Kunstwerke wieder ihren Platz; ein Wunder, mit dem 1968 nicht zu rechnen gewesen war.

Frohe Weihnachten!

23

23

Alma Mater Lipsiensis

Alles begann 1409 mit einer Entscheidung des böhmischen Königs Wenzel IV., die Stimmverhältnisse an der Universität Prag, die bis dahin unter den vier Nationen von Böhmen, Sachsen, Polen und Bayern gleichberechtigt verteilt waren, zugunsten seiner Landsleute zu kippen. Entsetzen und Aufruhr unter den Professoren war so groß, dass ungefähr 80 % des Lehrkörpers mitsamt dem Rektor und vielen vor allem deutschen Studenten die Universität und Prag verließen. Hunderte Magister und Scholaren zogen nach Leipzig, das als florierende Handels- und Messestadt für eine Neugründung geeignet erschien.
Auch der Markgraf von Meißen, Friedrich IV. von Wettin, sah hier eine Gelegenheit, die Entwicklung seines Landes zu fördern, und ersuchte beim Papst um die Lehrerlaubnis, die schnell gewährt wurde. Im Dezember feierte man im damaligen Thomaskloster die Eröffnung und gründete neben dem bereits laufenden Studium Generale die Philosophische Fakultät sowie die für Medizin, Jurisprudenz und Theologie.

Schon bald zeigte sich, dass die Gründerväter richtig gerechnet hatten. Die Lage der Stadt, die durch Messe und Handel bedingte Weltoffenheit , aber auch die wachsenden Bedürfnisse der deutschen Territorialstaaten nach Ausbildung für ihre Eliten ließen die Bedeutung der Universität rasant steigen, großzügig unterstützt durch landesherrliche und kirchliche Mittel. Mit der Reformation änderte sich die Ausrichtung, die Bedeutung nahm aber weiter zu und stabilisierte sich auch in der Folgezeit. Über die Jahrhunderte versammelten sich hier Koryphäen jeder wissenschaftlichen Richtung, während unter den hunderten später berühmt gewordenen Studenten nicht nur der notorische Goethe zu nennen ist, sondern auch Männer wie Leibniz, Nietzsche, Heisenberg oder Bloch.
Einer der vielen Innovatoren ist auf dieser Plakette abgebildet, die sich an einem der Eingänge des Universitätsgebäudes befindet: Wilhelm Wundt, Philosoph und Mediziner, begründete hier mit dem Institut für experimentelle Psychologie recht eigentlich eine neue Wissenschaft.

22-heute

22

Die Königin aller Früchte

Dem Jahr 1492 kommt im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit ein besonderes Gewicht zu: die Reconquista endet mit dem Fall von Granada und in der Folge bricht Kolumbus nach Indien auf und landet auf den großen Inseln vor dem amerikanischen Kontinent. Von seiner ersten Reise bringt er neben anderem aus Guadalupe Kisten voller exotischer Früchte mit. Aber während den Kartoffeln die lange Fahrt nichts ausmacht, hat er mit einer Ladung Ananas weniger Glück: nur durch Zufall überleben einige wenige Exemplare, manche sagen, dass es nur die eine Ananas war, die der Seefahrer in Madrid Ferdinand von Aragon überreichte. Schön in ihrer perfekten Symmetrie, erinnerte sie den König an einen Pinienzapfen und wurde deshalb zärtlich Piña genannt. Die Begeisterung kannte keine Grenzen und ein Aficionado verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass einzig die göttliche Venus würdig sei, die Königin der Früchte zu pflücken.

Natürlich waren es nicht nur der wie eine Krone aussehende Schopf und die goldene Farbe, die sie so kostbar machten. Ananas blieben bis ins 17. Jahrhundert eine Rarität, denn solange dauerte es, bis ein Gärtner – es war der des englischen Königs Karl II. – seinem Herrn eine im Gewächshaus gezogene, reife Frucht überreichen konnte. Die anderen mussten sehnsüchtig darben, waren die Schiffsreisen für den Import immer noch viel zu lang und die meisten Früchte kamen ungenießbar an. Kurioserweise führte die Knappheit in England dazu, dass man sich einzelne Exemplare lieh, die als Höhepunkt eines Festessens präsentiert wurden, nur um nach ausreichendem Betrachten per Diener zur nächsten Party geschickt zu werden.

Ob sich die Architekten des Neuen Grassimuseums dieser Zeiten des Ruhms erinnerten, als sie eine goldene Ananas auf den eher schlichten Art-Deco-Bau setzten, ist nicht bekannt. Wohl aber, dass Franz Dominic Grassi sein Vermögen, das er zu großen Teilen der Stadt Leipzig vermachte und aus dem der Museumsbau bestritten wurde, auch mit dem Handel von Südfrüchten verdient hatte.

21

21

Draußen in der Vorstadt

Im 17. Jahrhundert waren Städte noch mit einem Befestigungsring umgeben, vor dem die Vorstädte lagen. Dort wohnten Handwerker wie die Gerber, deren übelriechende Höfe man nicht in der Stadt haben wollte, dort lagen aber auch Gemüsegärten und Landwirtschaft, die zur Ernährung der Stadt beitrugen. Zum Ende des Jahrhundert verloren die Befestigungen nach und nach ihre Bedeutung, auch wenn es noch einige Zeit dauerte, bis sie abgebrochen wurden. Der Leipziger Rat gab mit Erlaubnis des sächsischen Kurfürsten das Land zur Bebauung frei und viele Adlige und Handelsherren kauften Grund, um sich hier draußen Gärten vor allem nach französischem Vorbild errichten zu lassen.

Caspar Bose, der aus einer bekannten Leipziger Familie stammte und eine Gold- und Silbermanufaktur führte, interessierte sich neben vielen anderen Dingen vorzüglich für die Gartenkunst. Einen im Besitz der Familie befindlichen Garten in der östlichen Vorstadt erweiterte er zu einem spektakulären Barockgarten mit exotischen Pflanzen aus aller Welt. Im Laufe des nächsten Jahrhunderts entstanden in Leipzig ungefähr dreißig prächtige Gartenanlagen, worunter der seines Bruders Georg in der westlichen Vorstadt und der Apelsche Garten besonders berühmt und über die Stadt hinaus bewundert wurden.

Der Besitzer des letzteren, der Großkaufmann Andreas Dietrich Apel, hatte vom sächsischen Kurfürsten zusätzliches Land zum Geschenk bekommen und schuf dort zusammen mit dem Gartenbaumeister und Architekten David Schatz eine der prächtigsten Anlagen Deutschlands. Durch die gestaltete Landschaft aus Alleen, Laubengängen, Pavillons und Springbrunnen ließ Schatz einige Seitenarme der Pleiße führen, die mit Booten und Gondeln befahren und für Feste in atemberaubender Atmosphäre genutzt werden konnten. Der Kurfürst war so begeistert, dass er Apel mit der Betreuung der Dresdner Orangerie beauftragte. Den Bildhauer Balthasar Permoser lieh er ihm übrigens auch aus, der für den Eingang zum Garten die hier abgebildete Statue der Juno schuf.

20

20

Wenn Häuser sprechen

Steibs Hof ist eines der prägnantesten Gebäudekomplexe auf der an prägnanten Gebäuden nicht armen Nikolaistraße. Was hier fasziniert, ist die Mischung aus interessanter Geschäftsarchitektur, der man die Erbauungszeit um 1910 ansieht, und diesem exorbitant prächtigen Mittelbau, der den Neobarock so übertreibt, dass einem, wenn man es mag, entzückt fast die Augen tränen: das opulente Portal mit der darüber liegenden Balustrade, die Ornamente rechts und links und der üppige Fensterschmuck, die beiden Halbfiguren, die über dem obersten Fenster Handelsschiff und Hammer präsentieren und endlich die Weltkugel, die wie ein riesiger Transmitter dem Himmel ihre Kontinente entgegenstreckt. Das Interessanteste, weil Unerwartbare aber ist, was sich unter dem obersten Fenster befindet: die Jahreszahl 1687 und ein Relief dreier alter Häuser.

Diese drei Häuser aus dem 17. Jahrhundert ließ der Baumeister Felix Steub abreißen, um 1907 über ihrem Grund eins der modernen Messehäuser zu bauen, die damals die alte Bebauung ersetzten. Die Nikolaistraße läuft zwar durch das alte Handelsviertel, das im 12. Jahrhundert um die gleichnamige Kirche entstanden ist. Von architektonischen Zeugnissen auch nur der Renaissance ist aber nichts mehr übrig geblieben. Natürlich lag es auch daran, dass es neben Zerstörung durch Krieg und Besetzungen immer wieder zu Bränden kam und neu gebaut werden musste. Aber erst mit der Neuerfindung der Innenstadt in den Gründerjahren verschwand das allermeiste, bis auf ein gerettetes Detail hier oder eine Reminiszenz da.

Um die Jahrtausendwende jedoch, als zwischen Nikolaistraße und Brühl viele der teils bedrohlich maroden Häuser saniert werden sollten, durften Archäologen nach der nicht mehr sichtbaren Vergangenheit graben. Vor allem in einigen noch gut erhaltenen Latrinen rund um Deutrichs Hof fanden sich Scherben, Küchengeräte, Töpfe und sogar Teile kostbarer Gläser, die Aufschluss über die einst dort befindlichen Haushalte gaben und und ein kleines Fenster in die Vergangenheit öffneten.

19

19

Zeppeline in Leipzig

Alles begann damit, dass nach Jahren der Erprobung die erste Serie von Zeppelin-Luftschiffen gebaut wurde, die zur kommerziellen Personenbeförderung genutzt wurden. Im Jahr 1912 gründeten Leipziger Bürger die „Leipziger Luftschiffhafen- und Flugplatz-Aktiengesellschaft“, die in Mockau zu bauen begann. Schon nach sechsmonatiger Bauzeit war die Luftschiffhalle fertig, die zu dieser Zeit als die größte der Welt galt. Die Einweihung von Flugplatz und Halle hatte sich der sächsische König vorbehalten und unter dem Beifall der begeisterten Besucher landeten am Nachmittag gleich zwei der Himmelsriesen. An Bord der „Sachsen“ befand sich der greise Graf Zeppelin, der sich den Flug zur Feier nicht hatte nehmen lassen. Zur Erinnerung wurden später sogar Postkarten gedruckt, die die beiden Flugschiffe nebeneinander in der Halle zeigten.
Bis zu Beginn des ersten Weltkriegs starteten in Mockau mehrere hundert Zeppeline und Flugzeuge, danach wurde der Flughafen nur noch militärisch genutzt. Die große Luftschiffhalle stürzte Anfang 1917 unter massiver Schneelast ein und brannte durch die dabei ausgelöste Explosion völlig aus.

Ein anderer Ort in Leipzig erinnert immer noch an den Grafen und die Begeisterung, die seine Luftschiffe auslösten. Auf der Nikolaistraße hatte der Rauchwarenhändler Felix Reimann im Jahr 1908 ein altes Haus gekauft, in dem der Stadtrat einstmals Bier hatte brauen lassen. Reimann ließ das alte Gebäude und das auf dem Nachbargrundstück abreißen und an ihrer Stelle ein großes Geschäftshaus bauen. In Erinnerung an den Luftschiffgrafen nannte er es Zeppelinhaus, wie man auf der Haustafel über dem Mitteleingang lesen kann, die von zwei Putten gehalten wird. Ein Medaillon mit dem Porträt Ferdinand von Zeppelins ist eine Etage höher angebracht.
Nach einer gründlichen Sanierung beherbergt es heute das Instiut für Kommunikations- und Medienwissenschaften der Leipziger Universität.

Mit einem Zeppelin hat der Hallenser Künstler Moritz Götze in Specks Hof, einem der ältesten Ladenpassagen der Stadt  an die Leipziger Luftschiffzeit erinnert.

18

18

Eine eisige, etwas absonderliche Geschichte

In den alten Tagen, als Waltran und Fischbein noch teure Handesgüter waren, rüstete auch ein deutscher Kaufmann ein Schiff aus, um vor Grönland Wale und Robben zu jagen. Aber das Schiff geriet in stürmische See, Eisbrocken schlugen ein Leck in die Schiffswand und als noch dicker Nebel aufkam, sah sich die Mannschaft schon verloren. Bis, so sagt die Überlieferung, ein rettender Engel in einem spitzen Boot aus Robbenhaut und Knochen durch die Wellen schoss. Ihm gelang es nicht nur, alle Mann an Bord zu retten, sondern er lotste auch das Schiff in eine naheliegende Bucht, wo es wieder seetüchtig gemacht werden konnte.

Später lud der Schiffseigner, ein gewisser Martin Haugk aus Leipzig, den wackeren Grönländer samt Boot und Ausrüstung in sein Haus auf die Petersstraße ein, um dort seine Tage zu verleben. Der Mann schaffte es aber nur bis Lübeck, wo er erkrankte und starb. Hochbetrübt ließ ihn der sächsische Kaufmann ordentlich bestatten, beauftragte aber zuvor einen Holzbildhauer, das Konterfei des Grönländers zu schnitzen und ließ sich Bild, Boot und Ausrüstung nach Leipzig senden, wo er alles an die Decke seines Kontors hängte.

Heute würde man über die Sache wohl bedenklich den Kopf schütteln. Das Haus des Kaufmanns jedenfalls ging später in andere Hände über, Boot und Ausrüstung kamen auf den Dachboden und wurden später dem Leipziger Völkerkundemuseum übergeben. Das Haugksche Haus wurde nach 1900 als Messehaus umgestaltet und „Zum Grönländer“ genannt, den man auf einem bronzenen Relief über dem Eingang in seinem Kajak fahren sah. Die Wende rettete auch diesen während der DDR-Jahre stark verfallenen Bau. Heute leuchtet über dem Eingang wieder goldfarben ein Relief mit dem Bild des tapferen Retters.

17

17

Der berühmteste Leipziger

Als Johann Sebastian Bach im Frühjahr 1723 nach Leipzig kam, lag eine Zeit ungewissen Wartens hinter ihm. Was heute unvorstellbar scheint: er war nicht die erste Wahl für die Kantorenstelle in St. Thomas gewesen. Unter den in Betracht gezogenen Komponisten staken Graupner und Fasch in Dienstverhältnissen fest und Telemann, auf den die Wahl gefallen war, saß besser bezahlt in Hamburg und sagte ab. Erst danach kam Bach ins Gespräch und schließlich sagte ihm der Rat ohne große Begeisterung zu.

Heute ist Leipzig ohne den Eisenacher kaum zu denken. Thomaskirche und -chor, Bach-Museum und Archiv, über 150 erhalten gebliebene Kantaten, dazu die Passionen, das Weihnachtsoratorium – eine Erfolgsstory, möchte man meinen. Wenn man ihn befragen könnte, würde er vielleicht seine Stirn in Falten ziehen, denn er war kein einfach zu nehmender Künstler und die Vertragsbedingungen für ihn nicht angenehm. Dem Rat hatte er sich in allen Bedingungen zu unterwerfen und auch die Kirchenbehörde hatte Einspruchsrechte. Bei der Auswahl der Knaben für Thomasschule und Chor wollte er mitreden, denn die Schüler schienen ihm musikalisch oft wenig geeignet. Zu vieles wurde ihm abschlägig beschieden und die Konflikte nahmen kein Ende. Als er nach 27 Dienstjahren krank wurde und starb, war das der Stadt nicht viel Aufmerksamkeit wert.

Trotzdem stehen heute zwei Bach-Denkmale in Leipzig. Das ältere wurde von Felix Mendelssohn Bartholdy gestiftet, der Bachs Werken erst wieder zu einer Renaissance verhalf, und steht nahe der Thomaskirche. Das zweite, auf dem man den Komponisten endlich selbst erblickt, wurde im Mai 1908 geweiht und steht jetzt direkt vor dem Bach-Fenster von St. Thomas. Ein bisschen unordentlich sieht der Herr Kantor aus in seinem offenen Rock, als hätte man ihn mitten aus der Arbeit gerissen. In einer Hand die Notenrolle, die andere gerade eben von der Orgel gelöst sieht er selbstbewusst über die Stadt, der er zu so viel Ruhm verholfen hat.

16

16

Rund um die Mädler-Passage

Auerbachs Keller kennt jedermann, zumindest wer schon einmal den Faust gelesen hat. Dass am Ursprung der Sache ein Zeitgenosse Luthers und Rektor der Leipziger Universität steht, nimmt man freundlich zur Kenntnis, wundert sich aber doch, dass der Mann die Zeit fand, einen Weinausschank zu eröffnen. Ein bisschen anders war es allerdings schon.
Heinrich Stromer kam 1497 zum Studium der Medizin nach Leipzig, nach elf Jahren war er bereits Rektor, wenig später Professor und bis an den Kaiserhof bekannt; nach seinem Geburtsort in der Oberpfalz nannte man ihn den Doktor Auerbach. Von seinem Schwiegervater kaufte er einen Hof in der Grimmaischen Straße und ein paar andere Häuser hinzu und ließ einen Handelshof errichten, der für lange Zeit einer der bedeutendsten in Leipzig war. Unter dem alten Hof hatte es schon vordem Gewölbe mit Weinausschank gegeben, die der Doktor ausbauen ließ: Auerbachs Hof und Keller waren geboren und wurden sehr frequentiert, mit den literarisch berühmten Folgen.

Als um 1900 viele alte Höfe in der Innenstadt abgerissen und mit großen Messepalästen überbaut wurden, erwarb Kommerzienrat Anton Mädler, dem auch eine Fabrik für Täschnerwaren gehörte, den ganzen Komplex. Seine Umbaupläne riefen weltweit die Liebhaber von Auerbachs Keller auf den Plan, Mädler hatte ein Einsehen und die berühmte Restauration blieb erhalten, ja wurde sogar vergrößert. Nach Fertigstellung eröffnete die neue Handelspassage passenderweise als Messehaus für Lederwaren, Weine und Porzellane; auch die Verantwortlichen der DDR änderten daran nichts. Heute gilt die Mädlerpassage als die größte und schönste der Stadt, ein Kleinod, das vergleichbaren Häusern in Brüssel oder Mailand in nichts nachsteht. Neben vielen bemerkenswerten architektonischen Details ziert sie ein ganz besonderes Schmuckstück: ein 24-teiliges Glockenspiel aus Meißner Porzellan, Geschenk der Elbestadt seit den 60er Jahren, das mehrmals am Tag verschiedene Stücke erklingen lässt.

15

15

Leipziger Lerchen, so und auch anders

Man mag es kaum glauben, aber Nachtigallen (die Zungen!), Crammetsvögel, Schnepfen und liebliche Lerchen wurden auch in unseren Breiten seit frühester Vorzeit gejagt und spätestens seit dem Mittelalter mit Lust gegessen. Auch in Sachsen.

Besonders Leipzig wurde im 18. Jahrhundert zu einem Ort, wo man sie zu Hunderttausenden in den Flussauen fing und, natürlich, mit ihnen handelte. Mit Speck, Ingwer und Muskat gewürzt, eingewickelt in Lorbeerblätter und in zerlassener Butter gebraten, verspeiste man sie hier besonders gern, doch auch der sächsische Hof, die deutschen Länder und das nahe liegende Ausland waren begeisterte Abnehmer. Gerupft, in Papier gehüllt und in Kisten gut verpackt schickte man sie an die Kunden; beim Gourmet und späteren Vielesser August dem Starken schmückten sie die Hochzeitstafel.

Doch die Zeiten änderten sich, die Lerchenpopulation nahm immer mehr ab und viele Menschen fühlten sich unbehaglich. Die berühmte Kochbuchautorin Henriette Davidis empfahl zwar noch ein Rezept, bedauerte aber gleichzeitig die schönen Vögel.

Als König Albert 1876 die Lerchenjagd endgültig verbot, erdachte ein findiger Leipziger Bäcker schnell einen süßen Ersatz: kleine Teilchen aus Mürbteig, mit Mandeln, Nüssen und Erdbeerkonfitüre gefüllt und je zwei gekreuzten Teigstreifen verziert – Symbol für die Schnüre, mit denen man die Vögel einst zusammengebunden hatte. Nichts erinnerte an den ursprünglichen Geschmack, aber man nahm die Delikatesse dankbar an, die bis heute sehr beliebt ist, nicht nur in Leipzig.

14

14

Lettern, Bilder und ein Walskelett

Will man sich in Leipzig über Druckkunst informieren, geht man am besten ins gleichnamige Museum, wo vom einfachen Bleigussbuchstaben über Matrizen, Druckpressen, Bindemaschinen bis hin zu Vergoldewerkzeugen alles rund um die Buchherstellung zu finden ist. Dass die Kunsthochschule der Stadt eine für Grafik und Buchkunst (HGB) ist, wundert da nicht, obwohl man leicht einer Täuschung unterliegt, denn sie beherbergt auch Klassen für Malerei, Medienkunst und Fotografie. Den heutigen Namen trägt sie erst seit den 1950er Jahren, ist aber ganz klassisch aus einer Königlichen Akademie für Malerei hervorgegangen.
Im Gegensatz zu ihrer Dresdner Schwester, die wie sie im Jahr 1764 gegründet wurde, war sie aber immer gut für Dinge, die es woanders noch nicht gab. So öffnete sie als erste deutsche Kunsthochschule das Studium für Frauen und spielte ihre Vorreiterrolle dabei so gut, dass schon 1913 die Zahl der Studentinnen die ihrer männlichen Kollegen überstieg. Die Abteilungen für Kunstgewerbe und Bildhauerei wurden zwar eingestellt, dafür aber der Schwerpunkt hin zu Grafik und Buchkunst verlegt. Während der DDR-Jahre etablierte sich hier die sogenannte Leipziger Schule, mit Malern wie Tübke, Mattheuer, Rink oder Bernhard Heisig, die die Hochschule in den internationalen Fokus rückten; Jahrzehnte später mischte eine Gruppe um den Rink- und Heisig-Schüler Neo Rauch unter dem Namen Neue Leipziger Schule den internationalen Kunstmarkt auf.

Ein einzigartiges Projekt der ganz anderen Art unternahmen 2002 Studenten um den Anatomieprofessor Ingo Garschke. Sie fuhren an die Nordsee und legten das Skelett eines dort gestrandeten, 30 Tonnen schweren Pottwals frei und transportierten es nach Leipzig, wo es nach schwierigem Präparieren und Montieren zum Paradestück des Anatomiesaals wurde. Die HGB ist eine der wenigen deutschen Hochschulen, in der künstlerische Anatomie noch auf dem Studienplan steht. Sie ist eben immer für etwas Besonders gut.

13

13

Metamorphosen

Veränderungen geschehen manchmal schleichend, manchmal wie ein Umsturz, nach dem man erst aufräumen, dann neu bauen muss. Auch im deutschen Messehandel. Jahrhundertelang hatte alles nach bewährtem Muster funktioniert, bis sich um 1800 viele Parameter schlagartig änderten. Durch die Einführung der Dampfmaschine erhöhten sich Produktivität und Warenausstoß; mit den neuen Verkehrsmitteln veränderten sich Transportwege und Transportzeiten. Dazu fielen durch die Gründung des Deutschen Reichs schlagartig alle Zölle weg, aber auch die Privilegien, die der Kaiser den Messestädten einst garantiert hatte. Über Generationen betriebene Handelshöfe wurden unpraktisch, waren zu klein und für die Präsentation großer Maschinen nicht mehr geeignet. Aus diesen Gründen entwickelte man in Leipzig ein neues Konzept: bis auf ein Muster pro Produkt ließ der Händler seine Waren zuhause, der Messebesucher konnte sich alles in den Messehallen ansehen, ausprobieren, bestellen. Perfekt.

Nur waren die Besitzer der alten Handelshöfe gezwungen, groß zu denken. Sie rissen entschieden ab und bauten den Erfordernissen entsprechend neu auf. Zwar gingen viele der Renaissance- und Barockbauten verloren, dafür entstanden Komplexe, die für die Leipziger Innenstadt heute typisch sind. Nicht alles verfiel der Abrissbirne, die neuen Messehäuser wurden oft über eine Vielzahl alter Höfe und Grundstücke hinweg gebaut oder verbanden sie miteinander. Das Städtische Kaufhaus oder die Mädlerpassage mit ihren großen Ausstellungsflächen sind Beispiele für die neue Art der Warenpräsentation, mit der sich auch der Messehandel wieder konsolidierte. Der hier abgebildete Aufsatz gehört zu einem der ältesten noch erhaltenen Fahrstühle, zeigt die Geschosshöhe an und ist eins der vielen schönen Details, mit denen die Messehäuser auch heute überraschen.

12

12

Chorknaben im Hemd

Fast immer geht ein Seufzer der Rührung durch Kirche oder Konzertsaal, marschieren die Kleinsten eines Knabenchores ein. Wie niedlich sie aussehen in ihren Blusen oder Hemden, während die Älteren, meist ab dem Stimmbruch, schon im Anzug erscheinen. Jedenfalls ist das bei den Thomanern so. Was Sopran und Altus tragen, nennt man Kieler Bluse, dunkelblau mit einem weiß verzierten Umschlagkragen, der – wie der Name schon andeutet – seinen Ursprung bei der Marine hat. Als Kindermode populär gemacht wurde der Matrosenanzug durch den englischen Königshof und weil der deutsche Kaiser Wilhelm II. Enkel von Queen Victoria war, bekam er von ihr solch einen Anzug geschenkt und brachte die Mode nach Deutschland. Die Thomaner, jedenfalls die jüngeren, tragen die Kieler Bluse bereits seit mehr als hundert Jahren und, so heißt es, auf den Wunsch eben jenes Kaisers hin.

Entstanden ist der Chor mit der Gründung der Thomasschule im dreizehnten Jahrhundert, was ihn zu einem der ältesten im deutschen Sprachraum macht. Die Schüler der Thomasschule, wie die Eleven anderer Lateinschulen auch, hatten damals gegen Kost und Logis bestimmte Aufgaben zu verrichten, wozu das Singen im Gottesdienst, aber auch bei Hochzeiten, Beerdigungen oder anderen Gelegenheiten gehörte. Nach der Säkularisierung änderte sich die Konfession, aber es blieb bei den Aufgaben. Wie in den Jahrhunderten zuvor zogen die Schüler zu Weihnachten als Kurrendesänger von Haus zu Haus und baten um Gaben. Die einfachen schwarzen Radmäntel, mit oder ohne Umschlagkragen, kennt man heute von den geschnitzten Kurrenden aus dem Erzgebirge und ganz sicher haben auch die Thomasschüler einst solche Mäntel getragen. Dass ihre sängerischen Aufgaben und Kunstfertigkeiten schon vor dem Amtsantritt Johann Sebastian Bachs die der meisten anderen Lateinschulen übertrafen, muss man nicht erwähnen. Vielleicht aber, dass es eine Zeit gab, als man die kleinen Sänger nicht nur in einen Mantel, sondern auch noch unter Perücke und Dreispitz steckte. Dieser Unbequemlichkeit sind sie spätestens mit Kaiser Wilhelm und der Kieler Bluse entronnen.

11

11

Eine Palme auf dem Kirchhof

Bürgersinn und Bürgerstolz gehen in Leipzig Hand in Hand, was in einer Stadt, die im Kreuz zweier Handelsstraßen liegt, vielleicht nicht wundern sollte. Ein Ausdruck dessen ist die Nikolaikirche in der Innenstadt. Zwar gab es vermutlich schon in grauer Vorzeit ein Kirchlein zu Ehren dieses Schutzheiligen der Kaufleute und Reisenden, aber gleich nach der Erteilung von Markt- und Stadtrecht im Jahr 1165 begannen die Bürger, eine feste Kirche mit Rundbögen und Doppeltürmen zu bauen. Im Laufe der Jahrhunderte veränderte sich die Kirchenform, doch nicht nur die äußere. In St. Nikolai war es auch, wo die Reformation in Leipzig begann. Zwar stand Luther, wenngleich er sieben Mal in der Stadt predigte, nicht auf der nach ihm benannten Kanzel, dafür aber wirkte hier der große Reformator der Kirchenmusik, Johann Sebastian Bach, und in der angeschlossenen Nikolaischule lehrten und lernten viele später bedeutende Männer wie Olearius, Leibniz, Seume oder Wagner.

So betrachtet nimmt es nicht Wunder, dass ein viel späterer Umbruch in gerade dieser Kirche begann. Unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ fanden hier seit den frühen achtziger Jahren und trotz staatlicher Stör- und Sanktionsmaßen seitens der Regierung jeden Montag Friedensgebete statt, in einem Raum, der zu friedlichem Protest einlud und die Gewalt draußen hielt. So begann sich eben hier am 9. Oktober 1989 ein großer Demonstrationszug zu formieren, der friedlich, aber mit Nachdruck das Ende der DDR einleitete und den Weg zu einem wieder vereinten Deutschland öffnete.

In der Erinnerung an diese Zeit wurde der Nikolaikirchhof zu einem gelungenen Gedenkort umgestaltet. Die Nikolaisäule, die als Zitat der klassizistischen Palmsäulen im Kirchinnern entworfen wurde, trägt mit ihrer vielschichtigen Symbolik den Geist des Aufbruchs ins Freie hinaus.

10

10

Die Elefanten sind los!

Nun muss man als Leipziger keine Bange haben, denn auch wenn im hiesigen Zoo schon seit mehr als hundert Jahren Elefanten zu bestaunen sind, die beiden am Schuhmachergässchen Nr. 1 sind brav, lebensgroß, aus Kupfer getrieben und seit 1909 damit beschäftigt, das pagodengeschmückte Riquethaus nicht aus den Fugen geraten zu lassen. Außerdem bewachen sie, ganz argwöhnische, kluge Elefanten, den Eingang zum Jugendstilcafé, in dessen Inneneinrichtung man hier und da weitere kleine Elefanten entdecken kann.

Begonnen hatte die Geschichte im Jahr 1745, als der in Magdeburg geborene Jean George Riquet in Leipzig ein Colonial Grosso Geschäft gründete. Die Riquets waren Hugenotten und wegen des Verbots ihrer Religion aus Frankreich geflohen. Jean George importierte Luxuswaren aus Übersee, neben Tee und Gewürzen auch Kaffee, Kakao und Schokoladen. Seine Firma wurde in Leipzig zum Geheimtipp und auch den jungen Studiosus Goethe machte der süße Schmelz bald süchtig. In späteren Jahren und wenn er auf Reisen war, ließ er sich von seiner Frau Schokolade hinterherschicken, aber es musste die von Riquet sein, seiner erklärten Lieblingssorte. Eine Entschuldigung für seine Gier hatte er bei der Hand, hieß es damals doch, Schokolade wirke stabilisierend auf die Gesundheit, was Johann Wolfgang mit Jean George in einem regen Briefwechsel erörterte.

Hundert Jahre später war das Unternehmen expandiert und baute schließlich wegen der immensen Nachfrage eine eigene Fabrik für Schokoladen und andere Süßwaren. Markenzeichen war ein Elefant und auf der STIGA, der Sächsisch-Thüringischen Gewerbeausstellung in Leipzig, stellte die Firma 1897 ihre Produkte in einem asiatisch anmutenden Pavillion aus, der von zwei großen Elefanten flankiert wurde. Kein Wunder, dass zehn Jahre später beim Bau des Riquethauses der Architekt Paul Lange auf diese hübsche Vorlage zurückgriff.

09

9

Im Kreuz der alten Wege

Zwei große Fernstraßen durchzogen Europa seit grauer Vorzeit: die Via Imperii und die Via Regia. Führte die eine von Nord nach Süd, von Stettin bis nach Rom, querte die andere den Kontinent von West nach Ost. Und auch wenn das Kernstück der Via Regia, die früher auch die Hohe Straße hieß, vom Rheinland bis nach Schlesien reichte, fand der Reisende Weiterungen nach Spanien in die eine und nach Russland in die andere Richtung. In welchen Geschäften auch immer die Menschen hier unterwegs waren, in der Hauptsache waren die Straßen Fernhandelswege.

Was tut der Mensch, wenn er an eine große Wegkreuzung kommt? Er fährt weiter, er rastet oder er gründet nach kurzer Überlegung gleich selbst einen Rasthof, der zu einer Siedlung wird, die zu einem Marktort wird. An dem immer mehr Fernhändler rasten, die ihre Waren anbieten, Informationen tauschen, Innovationen etablieren und damit andere Menschen anziehen. So der eilige Zeitraffer, unter dessen Sausen vieles unberücksichtigt bleibt.

Der Ort, um den es geht, der bei den Linden, hieß irgendwann Lipsia, dann Leipzig. Bekam das Stadt- und Marktrecht, das Stapelrecht, unter dem jeder durchreisende Händler für zumindest ein paar Tage seine Waren anbieten musste, und endlich, um 1500 und von Maximilian I., das Reichsmesseprivileg und das Meilenrecht. Innerhalb von 15 Meilen, das sind ca. 112 km, durften von da an konkurrierende Städte keinen Markt mehr abhalten oder auch nur Zwischenlagerungen für Handelsgüter anbieten. Leipzig wird so zum größten Umschlagplatz für den Warenaustausch zwischen Ost und West, hält erst drei, dann zwei große Messen im Jahr ab und baut Handelshöfe, in denen sich Kaufleute aus aller Herren Länder niederlassen. Deren Planwagen ziehen, zu ihrem Profit und dem der Stadt, Jahrhunderte lang auf den alten Wegen durch ganz Europa.

08

8

Auf der Weltstraße der Pelze

Am Fassadenschmuck des Hauses am Brühl Nr. 74 sind Reliefs mit den verschiedensten Tieren zu sehen, auch Eichhörnchen sind darunter, und über der Wölbung des Dachfensters klettert sogar ein Bär. Gehört hat das Haus den Brüdern Abraham und Sacharje Assuschkewitz, die hier eine Firma für Rauchwaren betrieben. Der Firmennamen windet sich immer noch über ein Schriftband unterm zweiten Obergeschoss, das Gebäude ist ein Kulturdenkmal der Stadt und ein Dokument für die Zeit, als sie ein wichtiges Zentrum des europäischen Pelzhandels war.

Überhaupt der Brühl: eine der ältesten Straßen Leipzigs, läuft er entlang der Via Regia und war einst das Synonym für den Handel mit dem „weichen Gold“ und spülte schon im Mittelalter viel Geld in die Stadtkasse. Die schönsten Felle und weichesten Pelze kamen aus Osteuropa und Asien, nach Westen gebracht von jüdischen Händlern aus Galizien, die sich in Leipzig ansiedelten, als es nach den Befreiungskriegen langsam wieder erlaubt wurde. Viele Handelshöfe entlang des Brühl wurden von ihnen gebaut und zu Beginn des letzten Jahrhunderts wickelte sich hier ein Drittel des Welthandels von Pelzen ab.

Die jüdische Gemeinde wuchs und ihre wohlhabenderen Mitglieder bauten nicht nur Betstuben und Synagogen, sondern wirkten segensreich für die ganze Stadt. Chaim Eitigon, der aus dem russischen Ansiedlungsrayon stammte, war einer der erfolgreichsten Pelzhänder Leipzigs, die Firma hatte Dependancen in Moskau, Paris und New York. Eine seiner Stiftungen unterhielt ein Krankenhaus, das Patienten aller Religionen offenstand, eine andere vergab unter der gleichen Regel Renten an Kaufmannswitwen.
Mit der Machtübernahme durch die Nazionalsozialisten wanderten viele Firmen ins Ausland ab, acht Jahre später wurde verkündet, der Brühl sei „judenrein“. Heute erinnern nur noch Namen wie Harmelin, Gloeck oder Ariowitsch an die einstigen Mitbewohner.

07

7

Von Hausnamen und Hauszeichen

Straßennamen und Hausnummern sind uns so vertraut, dass man gar nicht darüber nachdenkt, was man ohne sie machen würde. Gab es Straßennamen schon im hohen Mittelalter, stellt man mit Erstaunen fest, dass erste Häuser, wie die der Augsburger Fuggerei, erst im 16. Jahrhundert eine Zahl erhielten, die europaweite Einführung der Nummerierung als Norm aber noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts auf sich warten ließ.

Natürlich waren Häuser auch in früherer Zeit gekennzeichnet, stellten sie doch einen bedeutenden Besitz dar und erleichterten die Orientierung vor allem in der Stadt. Man nutzte dazu sogenannte Hausmarken, einfache grafische Zeichen, denen der Baumeister ähnlich. Sie wurden in die Häuser geritzt, markierten aber auch anderes Eigentum. Das war praktisch, denn lesen konnten damals die wenigsten.
An ihre Stelle traten später Hauszeichen, mehr oder weniger elaboriert gearbeitet und meist über der Haustür oder dem Portal angebracht: eine goldene Sonne, ein weißer Adler oder andere einprägsame Objekte, die immer öfter auch die Tätigkeit des Inhabers anzeigten und dem Haus ihren Namen gaben. Am häufigsten findet man sie heute an alten Gasthäusern, die immer noch Zur Roten Gans oder Zum Blauen Hecht heißen.

Wurde ein baufälliges Haus abgebrochen, schmückte den Folgebau oft das bewahrte Hauszeichen; andere sind Neuschöpfungen, die auf den alten Namen des Gebäudes verweisen. Das hier abgebildete Zeichen gehört zum Thüringer Hof, Leipzigs ältester Biergaststätte, und zeigt die Zeichen der Brauerinnung in einem sechseckigen Stern, der aus zwei übereinander liegenden Dreiecken gebildet ist.

06

6

Venedig am Augustusplatz

Manchmal muss man groß denken, vor allem wenn die Voraussetzungen unzulänglich sind. Das traf in doppeltem Maße auf den Bau des Kroch-Hauses am Augustusplatz zu. Zum ersten wollte die Messestadt nach dem Weltkriegsdesaster und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust das eigene Image mit einem aufpolierten Städtebild verbessern. Und zweitens stand dem bauwilligen Bankier Hans Kroch nur ein schmales Grundstück am begehrten Ort zur Verfügung. Was er daraus machte, war allerdings überraschend komplex: Leipzigs erstes Hochhaus brachte venezianisches Flair an die Pleiße, mit stolzen Löwen als Wappentier, Glockenuhr und Glockenmännern, die allerdings etwas häufiger schlagen müssen als ihre italienischen Kollegen. Kein Wunder, bedenkt man die lateinische Widmung am Sockel, auf dem sie stehen: Omnia vincit labor, die Arbeit überwindet alles.

Das hatte durchaus etwas mit dem Selbstverständnis des Bauherrn zu tun, der die vom Vater gegründete Bank weiterführte und später Mitbegründer und Aufsichtsratsmitglied der Leipziger Messe- und Ausstellungs-AG wurde. Erfolgreicher Handel und Weltläufigkeit, das verband Leipzig mit Venedig, und Stolz auf das Erreichte drückte sich auch in der Inschrift der großen Glocke aus, die die Errichtung des Turms im fünfzigsten Jahr seit Bestehen des Bankhauses als ein Sinnbild ungebrochener deutscher Kraft feierte.

Nur fünf Jahre nach der Einweihung 1928 wandte sich diese Kraft gegen viele, auch gegen den Bauherrn, der aus einer jüdischen Familie stammte.
In der Reichspogromnacht verschleppte man ihn nach Buchenwald, dann weiter nach Sachsenhausen und ließ ihn erst frei, nachdem er für alle Familienmitglieder den Verzicht auf das Gesellschaftsvermögen der Bank unterzeichnet hatte. Ihm gelang die Rettung nach Jerusalem, wo er später nicht nur ein Hotel baute, sondern auch ein weitläufiges Modell der Stadt stiftete, das sie kurz vor der Eroberung durch die Römer zeigt.

05-heute

5

Lettern, Farbe und Papier

In einem Paralleluniversum stünde Leipzig nicht auf Braunkohleflözen, sondern auf Lagerstätten unzähliger Bücher, und durch die Adern der Leipziger würde statt Blut Druckerschwärze fließen. Übertreibung? Nur vielleicht.

Seit der Erfindung der beweglichen Lettern war die Stadt im Buchdruck involviert. Zwar hatte Frankfurt über Jahrhunderte die Nase vorn, doch was der einen die Nähe zu Gutenbergs Mainz, war der anderen Luthers Wittenberg. In der Leipziger Druckerei von Melchior Lotter zum Beispiel wurden nach 1517 neben vielen anderen Schriften des Reformators auch die berühmten 95 Thesen gesetzt.

Die große Buchzeit begann dreihundert Jahre später. Die Zahl der Verlage explodierte, das herstellende Gewerbe expandierte und eroberte mit dem Grafischen Viertel städtischen Innenraum. Das Adressbuch von 1900 offeriert fast tausend Verlage und Buchhandlungen, rund vierhundert Druckereien und Buchbindereien. Kurz vor dem ersten Weltkrieg arbeitete jeder zehnte Leipziger mit oder am Buch, hatte die Stadt mit der Bugra 1914 die weltgrößte Buchmesse und seit 1927 die Internationale Buchkunst-Ausstellung.

Die erste Zäsur kam 1933, von der zweiten im Dezember 1943 erholte sich Leipzig nicht mehr: das Grafische Viertel sank in Schutt und Asche und mit ihm geschätzt 50 Millionen Bücher. Nach dem Krieg gingen die meisten Verlage in den Westen und Frankfurt übernahm die Krone.
Dennoch blieb die Stadt neben Berlin wichtigster Buchort der DDR und hatte mit der Messe einen begehrten Ausblick auf sonst schwer erreichbare Literatur. Der Aufbruch nach 1989 und Entwicklungen rund um das geschriebene Wort haben die Situation erneut verändert. Aber immer noch steht Henselmanns Hochhaus wie ein aufgeschlagenes Buch über der Stadt, als sei es aus einem der magischen Flöze gewachsen.

04

4

Die zwei Leben des kleinen Herrn MM

In der DDR kannte ihn jedes Kind, was nicht nur daran lag, dass das niedliche Wesen ein hübsches Mitbringsel war. Das Messemännchen, Maskottchen der Leipziger Messe seit 1964, hatte mit Gerhard Behrendt denselben Vater wie eine berühmte Figur des ostdeutschen Kinderfernsehens. Was lag also näher, als das Sandmännchen zweimal im Jahr nach Leipzig zu schicken – eine spannende Sache für die Kleinen, eine hübsche Werbemöglichkeit für das Unternehmen und den Staat. Dem war es wichtig zu zeigen, wie die Stadt an der Kreuzung zweier alter Handelsstraßen ihre Vermittlerrolle zwischen Ost und West beibehalten hatte.

Mit der Wiedervereinigung 1990 wurde der kleine Mann in den Ruhestand geschickt, jedenfalls für die nächsten vierzehn Jahre. Dann aber, zu seinem vierzigsten Geburtstag, erstand er neu wie der Phönix aus der Asche: nicht nur die Leipziger, auch viele Aussteller wollten ihn gerne wieder haben, mit dem Globus unterm Hut, dem Koffer in der Hand und sogar der Pfeife im Mundwinkel. Falls sich jemand fragen sollte, wieso ein doppeltes M das Hütchen schmückt: es ist nicht die Abbreviatur von MesseMännchen, sondern von Mustermesse, einem 1895 in Leipzig erfundenden Handelskonzept, das die Abwicklung von Verkäufen sehr erleichterte.

03

3

Ein Prestigeprojekt mit Stil

Das von Langhans entworfene Opernhaus am Augustusplatz lag nach dem Krieg in Trümmern. Ob Walter Ulbricht als gebürtiger Leipziger und sozialistischer Städteplaner vom Dienst den Verlust persönlich nahm, kann man vermuten; dennoch ging es für die Stadt, trotz vieler Fährnisse, gut aus.

Zwar drehte man mehrere Wettbewerbsrunden und verschwendete Jahre mit einem Projekt, das an den Neoklassizismus des Bolschoi Theaters erinnerte; doch die Pläne wurden zu kompliziert, die Kosten zu hoch und der pompöse Stil im Umbruch der Nach-Stalin-Zeit obsolet.

Die neu berufenen Architekten Nierade und Hemmerling dachten um und es entstand ein streng anmutender, repräsentativer Bau, in dem sich Anklänge an die klassizistische Vergangenheit mit der Moderne verbanden.

Wie gewohnt mischte sich der Staatsratsvorsitzende in alle Entscheidungen ein, aber er genehmigte auch den kostspieligen Innenausbau: wertvolle Hölzer, handgefertigte Kacheln aus Meißner Porzellan, selbst die mit Blattgold bedeckten Wände im Treppenhaus wurden abgenickt und renommierte Künstler für sparsam eingesetzte Schmuckelemente engagiert.
Besonders extravagant, neben den umwerfenden Kassettendecken in Foyer und Saal, wirken heute noch die Lampen, Lüster und Leuchter, die in verschiedenen Varianten von Knospen, Dolden und Blüten den Besucher durch Flure und Foyers begleiten.

Ein bemerkenswertes Haus, das sich die DDR die damals gewaltige Summe von fast 45 Millionen Mark hatte kosten lassen. Als Ulbricht nach der Eröffnung im Oktober 1960 die Oper verließ, soll sein Blick auf die Paulinerkirche und der Satz, „wenn ich aus der Oper komme, will ich keine Kirche sehen“, gefallen sein. Auch dieses Vorhaben setzte er später durch.

02

2

Das Land des Roten Porphyr

Kein Besucher Mittelsachsens kommt an ihm vorbei, denn man sieht seine typischen Farben überall: als Fenstersturz, Türschmuck, historisches Grabmal oder gleich als Verkleidung eines ganzen Gebäudes.
Liegt der Ursprung des Sandsteins im urzeitlichen Thetismeer, wurde der Porphyr aus Feuer geboren; genauer gesagt war es ein Vulkan, dessen gigantischer Auswurf von Magma und Asche vor mehr als 260 Millionen Jahren einen riesigen Berg aufschüttete und zur Entstehung des roten Tuffsteins führte, den man nach seinem Fundort Rochlitzer Pophyr nennt.

Schon in der Bronzezeit wurden freiliegende Gesteinsbrocken zu Mahlsteinen verarbeitet, seit dem zwölften Jahrhundert baute man ihn in Steinbrüchen ab. Ungefähr zur selben Zeit erlebte der Porphyr als Baumaterial seine erste Blüte, wie die Basilika Wechselburg oder die Rochlitzer Kunigundenkirche bezeugen. Ein paar Jahrhunderte später verwendete ihn Hieronymus Lotter beim Bau des Leipziger Alten Rathauses, und auch die Bürger der Stadt und die Bauern rings im Land ließen es sich nicht nehmen, ihre Häuser und Gehöfte mit dem roten Tuff zu schmücken.

Weil Porphyr wie ein Weichgestein bearbeitet werden kann, wurde er früh für Bildhauer und Steinmetze interessant, denn je weicher der Stein, desto filigraner die Möglichkeiten. Manche nennen ihn auch den sächsischen Marmor und so hat er es mit seinen prachtvollen Farben, changierend zwischen Rot und Violett, sogar als erster deutscher Stein in die Liste des Natur-Weltstein-Erbes geschafft.
Und auch wenn Porphyr in der DDR-Baugeschichte eher ein Schattendasein führte, erinnerte man sich in Leipzig seiner, als anstelle des abgebrochenen Hotel de Saxe ein Nachfolgebau errichtet wurde: Er bekam ein neobarockes Portal aus warmem roten Stein.

01

1

Starke Elixiere

Schon das boshafte Bonmot vom Kaffeesachsen, mit dem Preußenkönig Friedrich II. die sächsische Kampfmoral verspottete, zeigt, dass der Sachse, die Wiener einmal ausgenommen, am wenigsten auf sein Schälchen Heeßn verzichten kann. Ob nun holländische Kaufleute den ersten Sack mit Kaffeebohnen im Jahr 1670 in Leipzig umschlugen oder die Messestädter noch bis 1693 warten mussten: es war ein sensationeller Auftritt mit Folgen.

Ein Ausschank nach dem anderen öffnete seine Türen und der Zulauf war so stark, dass die Leipziger Obrigkeit bald eine Kaffeehaus-Ordnung erließ, um die Horte von Unzucht und Spielsucht auszutrocken. Durch Razzien wollte man vor allem das schwache Geschlecht vertreiben; selbst zu arbeiten war ihnen dort untersagt, obgleich auch Frauen einige Etablissements besaßen und betrieben.

Von diesen Misslichkeiten sichtlich unberührt, lehnt Leipzigs zufriedenster Kaffeetrinker noch heute über dem Portal des Hauses Nr. 4 in der Kleinen Fleischergasse. Gemütlich hingestreckt, mit einer feschen Feder am Turban, lässt er sich von einem niedlichen Putto ein Schälchen Schwarzen reichen. Der golden blühende Baum hinter ihm gab dem Haus seinen Namen: „Zum Arabischen Coffe Baum“ ist Deutschlands ältester, ohne Unterbrechung betriebener Kaffeeausschank. In seinen Stuben haben sie alle gesessen: von August dem Starken, der hier regelmäßig seiner Sucht nachgab, bis zum Alpha und Omega von Musikern, Literaten und Theaterleuten, Professoren, Studenten, Politikern, Revolutionären und ganz normalen Leipziger Bürgern, die hier Gespräch, Ablenkung und Entspannung suchten.
Der alte Fritz überzog sein Preußen bald mit Kaffeesteuern und Kaffeespionen, während in Leipzig die Herstellung von Kaffeemühlen boomte. Aber das ist eine andere Geschichte.